Haben Sie es schon erlebt, dass Sie sich beim ständigen Vorwärtshasten unlebendig fühlen? Vielleicht fühlen wir uns lebendiger, indem wir auch mal stehen bleiben oder rückwärts gehen.
Gestern erinnerte ich mich an die Wasserschildkröte. Im Jahr 2009 war ich ihr begegnet. Zuerst hielt ich sie für einen Stein, da ich in ein Gespräch vertieft war. Inzwischen hat sich die Schildkröte zu Land oder zu Wasser für mich zu einer ständigen Begleiterin entwickelt.
An einer Konferenz auf Hawaii machten mein Kollege und ich einen Ausflug. Anstatt den Vorträgen zuzuhören, nahmen wir an diesem Tag den öffentlichen Bus zur North Shore von Oahu. Wir spazierten am traumhaften Strand, lauschten dem Meeresrauschen und redeten. Als wir plötzlich fast über sie stolperten.
Schon mehrfach hatte ich inzwischen diese Schildkröte gesucht. Damit meine ich ein Foto von ihr. Doch da ist ein „digitales Loch“. Das heisst, exakt die Fotos vom Frühjahr 2009 lassen sich nicht finden. Zum Glück habe ich auch noch ein physisches Fotoalbum. Von dort konnte ich sie abfotografieren.
Langsam ging ich gestern in der Zeit zurück, indem ich das Fotoalbum auf dem Estrich suchte und die Schildkröte auf dem Foto betrachtete. Und gleichzeitig setzten sich ein paar Puzzleteile zusammen. Ich dachte an meine Konferenzreisen in der Zeit als Biophysikerin. An den freudigen Mut, manchmal nicht einfach in die Konferenz zu sitzen, sondern Orte zu entdecken. Weiter dachte ich an das Buch „Momo“ von Michael Ende. An die Schildkröte Kassiopeia und Meister Hora mit ihrer großen Weisheit zur Zeit. Auch flossen aktuelle Prozesse in mir und der Welt in mein Erleben ein. Ich fragte mich: „Wie kann ich beitragen? Was ist mir wichtig?“
Langsam kam die Schildkröte zurück. Als sie schließlich vor Momo saß, erschien auf ihrem Panzer der Rat: „RÜCKWÄRTS GEHEN!“ Momo versuchte es. Sie drehte sich um und ging rückwärts. Und plötzlich gelang es ihr, ohne jede Schwierigkeit weiterzukommen.
Michael Ende1
Manchmal ergeben sich Zusammenhänge, ohne dass wir zielgerichtet arbeiten. Oder sie ergeben sich sogar genau dann, wenn wir absichtslos sind. Doch die Absichtslosigkeit anzustreben ist ein Widerspruch in sich. Absichtslosigkeit hängt mit Loslassen zusammen. Und Loslassen kann Angst auslösen in sicherheitsbedürftigen Seiten von uns. Andere Seiten von uns sind durchaus bereit zu vertrauen. Und im Fluss des Vertrauens kann sich alles vernetzen.
Systemik bedeutet: Alles hängt mit allem zusammen. Nichts existiert nur für sich alleine. Es gibt nicht den simplen Zusammenhang Ursache - Wirkung. Ändere ich an einem Element meines Erlebens, Handelns oder Kommunizierens etwas, so ändern sich alle anderen Elemente auch. Das birgt eine große Chance. Wir müssen nicht alles ändern. Wir können das ändern, was in unserer Kraft steht.
„Was ist eine Sternstunde?“ fragte Momo. „Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke“, erklärte Meister Hora, „wo es sich ergibt, dass alle Dinge und Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, so dass etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre.“
Michael Ende1
Als Kunsttherapeutin arbeite ich systemisch und prozessorientiert. Das Ergebnis des Malens oder Gestaltens ist zweitrangig. Das Wesentliche geschieht im Prozess. Oft liegt der Weg nicht da, wo wir zuerst hinschauen. Oft verbirgt er sich im scheinbar Unwichtigen. Weder die Klientin2 noch die Therapeutin sehen ihn vorerst.
Die Kunsttherapie kann einen Rahmen von Achtsamkeit, Wertschätzung und Sicherheit bieten. Mit dem Vertrauen und dem Mut zum Loslassen kann sich der Weg entfalten. Die Prozesse und Elemente innerhalb des Rahmens kommen von der Klientin. Es ist ihr Leben, ihre Zeit und ihr Weg.
„Jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.“
Michael Ende1
Wie kann ich beitragen? Ich höre einem Menschen zu und wertschätze ihn und seine Wahrnehmung. Ich arbeite systemisch, prozess- und ressourcenorientiert. Sowohl starre Ziele als auch festgelegte Diagnosen können das Wirken der natürlichen systemischen Abläufe ungünstig beeinflussen.
In der Kunsttherapie erforschen wir Ihre Erlebnisse im Hier und Jetzt. Dabei erspüren Sie Bezüge zu verschiedenen Erlebnissen zu anderen Zeitpunkten, seien es Zukunftswünsche, Absichten, Jetzigem oder Vergangenem.
„Denn so wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen, und Ohren, um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen.“
Michael Ende1
In welche Richtung geht die Schildkröte? Wen trifft sie auf ihrem nächsten Tauchgang? Begegnet sie Gefahren und entdeckt sie Perlen unter Wasser?
Die Ressourcen sind schon da, auch ohne, dass wir ständig vorwärtshasten. In all den Erlebnismöglichkeiten eines Menschen sind die hilfreichen und die weniger hilfreichen Muster enthalten. Welchen möchten Sie sich heute zuwenden?
Möchten Sie mehr erfahren und an einem Kurs oder an der Kunsttherapie teilnehmen? Hier finden Sie das Angebot und Informationen zur Kunsttherapie .
Monika Gloor, 12.09.2022
1: Ende, M. (1988). Momo - Oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. 8. Auflage 1993. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. ↩︎
2: Zugunsten der Lesbarkeit verwende ich personenbezogene Bezeichnungen in der weiblichen Form stellvertretend für alle Geschlechtsidentitäten. ↩︎