Kunsttherapie & Neurobiologie


Unser Gehirn bleibt bis ins hohe Alter beweglich. Die Forschung bestätigt diese Neuroplastizität. Es ist von grosser Bedeutung, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. So können wir unser Erleben selbst formen!

In der Kunsttherapie treten unsere Ressourcen, Überlebensstrategien und Blockaden zu Tage und können uns bewusst werden. Dabei achte ich darauf, welche Gehirnareale aktiviert sind. Beim Malen und Gestalten können wir regulierend eingreifen: Abstand vom Werk nehmen, reflektieren und es verändern. Somit fördern wir eine Verbindung zwischen dem, was uns lähmt oder überfordert und was uns stärkt und weiterbringt.

Die Psyche hat die Tendenz, Einseitigkeiten auszubalancieren (Jung1). Lebt der Mensch körperlich, seelisch und geistig aus einer schöpferischen Haltung, ist er an seine Ressourcen angeschlossen. Seine Selbstheilungskräfte können wirksam werden (Kast2). Die Symbole, die in der Kunsttherapie entstehen, sind Ausdruck der inneren Seiten des Menschen. Sie kommen durch das Malen und Gestalten auf die Ebene des Bewusstseins. Im Wechselspiel des Bewussten mit dem Unbewussten ereignet sich der kunsttherapeutische Prozess.

Neurobiologisch entspricht das einer Verknüpfung von Bottom-Up- und Top-Down-Regulation (siehe nächster Abschnitt). Zwischen den Polen des alten und des neuen Erlebens entsteht das Dritte, die Entwicklung (Kast2). Dadurch wird eine schöpferische Veränderung aus dem traumatischen Erleben hin zur Selbstregulierung möglich.



Relevante Gehirnareale und Gehirnstrukturen


Um zu verstehen, was beim menschlichen Erleben im Gehirn abläuft, fasse ich relevante Gehirnareale und Gehirnstrukturen vereinfacht zusammen (Abb. 1).

Der Hirnstamm nimmt Informationen aus dem Körper auf und reguliert Grundfunktionen wie Herzschlag und Atmung. Diese Funktionen des vegetativen Nervensystems laufen autonom ab (Bottom-Up-Regulation). Wir können sie nicht willentlich steuern. Der Hirnstamm kann unter Umständen rasch Energie mobilisieren und überlebensnotwendige Reaktionen wie Angriff, Flucht und Erstarren auslösen (Siegel3).

Das limbische System arbeitet eng mit dem Hirnstamm und dem Körper zusammen. Dabei erzeugt es die Grundtriebe, die Gefühle und die Bindungsfähigkeit. Es spielt dank des Hypothalamus, der die endokrinen Drüsen steuert, eine wichtige regulierende Rolle. Die Amygdala hat sich bei Angstreaktionen als wichtiges Alarmzentrum erwiesen. Der Hippocampus verbindet weit auseinanderliegende Hirnbereiche miteinander. Dazu zählen Wahrnehmungsbereiche, Erinnerungszentren und Sprachzentren (Siegel3).

Die Grosshirnrinde (der Kortex) erlaubt es uns, mit den Sinnen wahrzunehmen, willkürliche Bewegungen zu machen und zu planen. Evolutionsgeschichtlich als letztes hat sich der präfrontale Kortex entwickelt, der uns abstrakt und symbolisch denken lässt. Er ist verbunden mit Selbstgefühl, Kommunikation, emotionaler Ausgeglichenheit, Angstmodulation und moralischem Bewusstsein (Siegel3). Wir können durch ihn unser Verhalten von der unmittelbaren Reizsituation abkoppeln. Der präfrontale Kortex ist massgeblich an der willentlichen Selbstregulation (Top-Down-Regulation) beteiligt.




Abb. 1: Vereinfachte Darstellung der relevanten Gehirnareale und Gehirnstrukturen (Grafik: Monika Gloor)



Zwei Gehirnhälften


Das Grosshirn gliedert sich in zwei Gehirnhälften (Hemisphären), die durch den Balken (Corpus Callosum) miteinander verbunden sind. Die linke Gehirnhälfte innerviert die rechte Körperseite und die rechte Gehirnhälfte innerviert die linke Körperseite. „Innervieren“ heisst dabei „mit Nerven ausstatten“. Beide Hemisphären unterscheiden sich in ihrem Charakter und ihrer Zuständigkeit. Die linke Hemisphäre ist eher zuständig für Logik, Analyse, Sprachstruktur, Lesen, Schreiben, Zählen, Rechnen, Zeitempfinden und lineares Denken. Die rechte Hemisphäre kann komplexe Zusammenhänge ganzheitlich erfassen, folgt Bildern, Symbolen, Analogien und Assoziationen, ist für Musik, Gerüche, Muster, Träume und Intuition zuständig.

Je nach Tätigkeit, die ein Mensch ausführt, dominiert jeweils eine der beiden Hemisphären. Geht es darum, vernünftige Leistungen zu produzieren, dominiert die linke Gehirnhälfte. Wird Kreatives geschaffen, dominiert die rechte Gehirnhälfte. In Gefahrensituationen schaltet das Gehirn automatisch auf die Dominanz der rechten Gehirnhälfte um. Mit analytischer Vorgehensweise kann die gefährliche Situation nicht bewältigt werden. Das ganzheitliche Begreifen kann helfen, situationsadäquat zu handeln.

Auch wenn eine Hemisphäre dominiert, stehen dem Menschen auch die Informationen der anderen Hemisphäre zu Verfügung. Über den Balken läuft ein ständiger Informationsaustausch ab. Das Gehirn ist ein komplexes System, bei dem die linke und die rechte Hälfte interagieren. Sowohl analytisches Problemlösen als auch kreatives Denken können sich im Zusammenspiel zwischen verschiedenen beidseitigen Gehirnregionen erst maximal entfalten.



Neuroplastizität und Bahnung


Das Hebbsche Prinzip der Neuroplastizität besagt zusammengefasst: „Hirnzellen, die miteinander feuern, vernetzen sich“ (Löwel & Singer4, 1992, S. 209-212). Bei Aktivität wird ein Neuaufbau oder eine Verstärkung der synaptischen Verknüpfungen angeregt (Hebb5, 1949/2002). Bis ins hohe Alter bleibt diese Fähigkeit unseres Gehirns lebendig. Richten wir die Aufmerksamkeit auf etwas, so birgt das die Kraft in sich, die Struktur des Gehirns umzuformen. Wir haben die jede Sekunde die Wahl, auf was wir unsere Aufmerksamkeit richten. Die Kunsttherapie fördert die Präsenz und Wahlmöglichkeit.




Abb. 2: Schema des menschlichen Erlebens (Grafik: Monika Gloor)



Netzwerke im Gehirn


Mit Bahnung (Priming) bereitet sich das Gehirn darauf vor, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Es bilden sich neurophysiologische Netzwerke (Abb. 2). Netzwerke, die aktiviert werden, steuern unser Erleben. Dabei kann das jetzige Erleben über Erlebnisbrücken auch mit vergangenem Erleben verbunden sein. Das gesamte Potenzial unserer Erlebnisse können wir als „Möglichkeitsraum“ betrachten (Abb. 3). In der Mitte befindet sich eine Wahrnehmende . Indem sie die Aufmerksamkeit auf gewünschte Erlebnismuster legt, werden diese reaktiviert (Schmidt6, 2017).



Abb. 3: Der Möglichkeitsraum unserer Aufmerksamkeit



Implizite und explizite Erinnerungen


Implizite Erinnerungen sind Erfahrungen, die uns beeinflussen, ohne dass uns die Erinnerungen bewusst werden. Sie prägen sich im Laufe unseres Lebens im impliziten Gedächtnis ein. Es handelt sich z.B. um automatisierte Fähigkeiten wie das Radfahren oder um Ängste nach vergangenen Erfahrungen (Quarks7). Ein Grossteil unserer Wahrnehmungen, Emotionen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen laufen unbewusst ab (Siegel3).

Explizite Erinnerungen bestehen aus unseren autobiografischen Erinnerungen und unserem Wissen. Autobiografische Erinnerungen können wir räumlich und zeitlich verorten. Sie werden im episodischen Gedächtnis gespeichert, während gelernte Fakten im semantischen Gedächtnis gespeichert werden. Eine zentrale Gehirnstruktur für das explizite Gedächtnis ist der Hippocampus (Quarks7).


Monika Gloor, 2023


Literatur


  1. Jung, C. G. (2011). Die Dynamik des Unbewussten: Gesammelte Werke 8. 6. Auflage. Ostfildern: Patmos Verlag. ↩︎

  2. Kast, V. (2019). Die Tiefenpsychologie nach C.G. Jung. 5. Auflage. Ostfildern: Patmos Verlag. ↩︎

  3. Siegel, D. J. (2012). Mindsight - Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. 6. Auflage. München: Goldmann Verlag. ↩︎

  4. Löwel, S., & Singer, W. (10. Januar 1992). Selection of Intrinsic Horizontal Connections in the Visual Cortex by Correlated Neuronal Activity. Science Magazine 255, S. 209-212. ↩︎

  5. Hebb, D. (1949/2002). The organization of behavior. A neuropsychological theory. Nachdruck der Ausgabe New York 1949. London: Taylor & Francis Inc. ↩︎

  6. Schmidt, G. (2022). Vom “Trauma” zum befreiten Leben - Prinzipien und Ebenen von Interventionen hypnosystemischer Traumatherapie. Müllheim-Baden: Auditorium Netzwerk, Verlag für Audio-Visuelle Medien. ↩︎

  7. Quarks. (2020). Autobiografisches Gedächtnis. Abgerufen 12.03.2022. ↩︎